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Sarajevo

Ich war im Juni 2018 als Teil einer Exkursion der Universität Graz in Sarajevo. Hier ein Bericht über die Dinge, die ich gesehen habe.

Wie Sarajevo Krieg für Touristen spürbar macht

von Patricia Radda

Ich denke nicht, dass ich die Begriffe „Belagerung“, „Krieg“ und „Scharfschütze“ jemals richtig verstanden habe. Natürlich kenne ich die Worte und verwende sie korrekt, aber verstanden habe ich sie nicht. Es sind Worte, die etwas Ungeheuerliches, so Fremdes für mich darstellen, dass ich sie meines Wissens nach nicht begriffen habe.

Die Leute von Sarajevo, die über dreißig Jahre alt sind, haben einen Krieg erlebt und können sich daran erinnern. Die Bevölkerung von Sarajevo weiß, dass die meisten Menschen, die als Touristinnen und Touristen in die Stadt kommen, noch nie eine Waffe gesehen haben, geschweige denn einen Krieg oder tote Menschen. Der Krieg ist für Touristen und Touristinnen also etwas Interessantes, Ungewöhnliches; etwas, dass sie neugierig macht.

Krieg ist aber gleichzeitig etwas, das man nicht beschreiben kann. Man muss Krieg schon erleben, damit man weiß, was Krieg ist. Man spürt ihn erst, wenn man mittendrin ist. Vielleicht ist das auch gar nicht wichtig; es gibt so wenige Menschen auf der Welt, die privilegiert genug sind, um nicht zu wissen, was andauernde Todesangst ist. Vielleicht sollte ich mich einfach freuen, dass ich dazu gehöre.

Foto (c) Patricia Radda. Rosen von Sarajevo. Krater im Asphalt von Granateneinschlägen. Die Stellen, an denen Menschen starben, wurden mit rotem Harz markiert.

Krieg ist Zufall. Krieg ist zur falschen Zeit am falschen Ort sein, es ist zur richtigen Zeit losrennen. Oder zur richtigen Zeit schießen. In Sarajevo gibt es viele Dinge, die an den Krieg und die Belagerung erinnern. Denkmäler, Brücken, Einschusslöcher an Häusern, die roten Flecken auf der Straße, die weißen Steine der Friedhöfe, und so weiter: Ganz Sarajevo ist ein riesiges Denkmal an den Krieg. Eine Mahnung an alle: „Lasst es nicht wieder passieren!“ Und natürlich auch eine Opferdarstellung: „Schaut, was sie uns angetan haben!“

Vorwissen

Der Krieg in Bosnien begann offiziell 1992 und endete 1995. Meine Schulzeit umfasste die Jahre 1996 bis 2009: Ich lernte über die Kriege im ehemaligen Jugoslawien NICHTS in der Schule. In der Volksschule stellten wir Hilfspakete für Kinder im Kosovo zusammen, aber ich wusste nicht, wieso. Ich hatte nichts vom Krieg mitbekommen. Im Nachhinein verblüffte mich das, denn Bosnien ist doch wirklich nicht weit weg. Ich schämte mich an der Universität, weil ich so gar nichts darüber wusste. Ich musste alles nachlesen. Ich studiere Geschichte, deshalb saß ich praktischerweise an der Quelle.

Ich schrieb Seminararbeiten, analysierte die Filme No Man’s Land (2001) und Underground (1995), schrieb über Vergewaltigung als Massenvernichtungswaffe und Srebrenica. Aber ich schrieb darüber, wie ich auch über den Dreißigjährigen Krieg geschrieben hätte. Literaturbasiert und sehr distanziert. Wissenschaftlich vielleicht, aber die Wahrheit ist doch, dass ich die Geschehnisse nicht spüren konnte und deshalb grundsätzlich einfach nicht verstanden hatte. Eine Historikerin muss das auch nicht, sie soll ja objektiv historische Ereignisse schildern und besprechen können. Aber das kann nicht das einzige Ziel sein.

Um Menschen zu verstehen, muss man wissen, was sie erlebt haben. Um über ihre Geschichten berichten zu können, muss man wirklich verstanden haben, was sie durchgemacht haben.

Natürlich sollte man nicht nur eine Geschichte anhören, sondern mehrere Perspektiven kennenlernen. Das ist nur in jahrelanger Arbeit mit der Materie möglich. Ich wusste viel und doch nicht genug.

Ich fragte meine älteren Verwandten und entdeckte zwei Arten von Antworten. Entweder sie wussten nicht, dass in Bosnien Krieg war oder sie wussten nicht, dass der Krieg in Bosnien schon vorbei und es sicher war, dort hinzureisen. Sarajevo ist – wie alles, was im Süden nicht italienisch ist – für viele Leute nicht greifbar. Die Alten wissen nicht, in welchem Land es jetzt liegt, weil sie die Kartenupdates noch nicht bekommen haben. Die Jungen lernen in der Schule die Namen von Hauptstädten der ganzen Welt auswendig. Reihen von Namen, Städte und Länder, aber ohne jegliche Bedeutung.

Und doch ist Sarajevo jedem Österreicher, jeder Österreicherin, ein Begriff. Alles davon ist negativ besetzt: Sarajevo ist die Stadt, in der Thronfolger erschossen werden. Bosnien ist das Land, in dem Kroaten, Muslime und Serben aufeinander losgehen. In dem Scharfschützen und Kommunisten ihr Unwesen treiben. Ein Ort, wo man bei jedem Schritt aufpassen muss, nicht auf eine vergessene Mine zu steigen. Das Land, wo Ausländer herkommen: In den 60ern, um zu arbeiten, in den 90ern, um den „guten, braven Österreicher*innen die Arbeit wegzunehmen“ und jetzt kommen durch Bosnien Leute aus Syrien, die eigentlich vor einem Krieg fliehen, aber bestimmt auch „nur Böses im Sinn haben“. Offensichtlich ist Bosnien also ein Land, aus dem man wieder wegwill.

Mein Zugang zu Bosnien ist, denke ich, nicht nur von medialen und kulturellen Vorurteilen geprägt, sondern auch von Gesprächen mit Freunden. In meinem Bekanntenkreis gibt es mehrere Leute, die damals vor dem Krieg geflüchtet sind, dann aus Deutschland oder Österreich abgeschoben wurden und schließlich wieder hierher zurückkamen. Sie erzählen vom Leben, vom Flüchten, vom erneuten Aufbauen eines Lebens. Sie reden darüber, alles zu verlieren und wieder neu zu errichten. Und dann wiederholt es sich. Und das Leben geht weiter, mit Alpträumen und Verdrängung und mit Alltagsrassismus und Vorurteilen.

Die Geschichten waren für mich, die noch nie einen Krieg oder die Auswirkungen auf ein Land, eine Stadt und die Menschen gesehen hat, zwar traurig; ich empfand Mitleid, aber ich spürte den Krieg nicht. Ich konnte die Verzweiflung oder die Angst nicht spüren, die sie wohl gefühlt hatten. Der Krieg berührte mich nicht. Es waren nur ungefährliche Geschichten.

Ich denke, ein Teil der Einwohner*innen von Sarajevo will den Krieg sichtbar machen. Ein anderer Teil will ihn wohl einfach in der Vergangenheit parken und in die Zukunft blickend weiterleben. Aber wenn man schon so etwas Großes überlebt hat, dann kann man doch auch noch für Touristen Attraktionen daraus basteln. Das bedachte ich aber nicht, als ich nach Sarajevo reiste.

Zur Vorbereitung auf die Exkursion lasen wir Literatur zu Bosnien im Allgemeinen und Sarajevo im Besonderen, hörten Vorträge, sahen Filme. All das hinterließ bei mir einen recht konservativen Eindruck von dem Land. Der Satz: „Bosnien ist jetzt viel konservativer als vor dem Krieg“ blieb bei mir hängen. Sarajevo sei das religiöse Zentrum der Muslime am Balkan, und ich stellte mir eine Dauerbeschallung durch Muezzine vor. Eine Bekannte erzählte mir, dass eine Freundin von ihr plötzlich begonnen hatte, eine Burka zu tragen, weil sie dafür Geld bekam. Das beunruhigte mich etwas. Dieselbe Bekannte versicherte mir aber, dass ich die Stadt Sarajevo lieben würde, weil es genau meine Stadt wäre. Meine Vorurteile waren also wissenschaftlich oder kommunikativ fundiert. Auf die Reise selbst freute ich mich vorsichtig.

Sehen

Foto ©Patricia Radda. Blick vom jüdischen Friedhof auf den westlichen Teil der Stadt.

Sarajevo ist Fluss und Hügel. Hügel voller Häuser. Häuser voller Menschen. Die Straßen gehen schnurgerade die Hänge hinauf, sodass Menschen und Autos ins Keuchen kommen. Ich gehe bergauf und jedes Mal, wenn ein Auto den Hügel hinauffährt, hupt es. Es nervt mich, bis mir einfällt, dass es alte Autos sind, und wenn sie stehen bleiben, kommen sie den Berg wahrscheinlich nicht hinauf. Also springe ich jedes Mal aus dem Weg.

Der Tourguide am ersten Tag hat uns von Mahallas erzählt, im Osmanischen Reich kleinste Verwaltungseinheiten. Im Grunde ist es eine Nachbarschaft, ein paar Straßen, jede Mahalla soll ihre eigene Moschee, ihr eigenes Café und ihren eigenen kleinen Marktplatz haben.

In Sarajevo gibt es über 200 Moscheen.  Wenn man oben in den Hügeln ist, schallen die Gebetsaufrufe der Muezzine als stimmungsvoller Geräuschteppich hinauf.

Irgendwie wirken die einzelnen Rufer aber leiser als zum Beispiel in der Türkei. Von den Hügeln aus sieht man über die Stadt, das ganze Tal. In der Sonne liegt alles friedlich da, erst wenn man wieder hinunterkommt, verwandelt sich Sarajevo in die hektische, laute, nach Autoabgasen riechende Stadt.

In Bosnien gibt es viele leere Häuser. Als ich durch das Land fuhr, entdeckte ich verschiedene Typen von unfertigen Häusern. Manchen fehlte das Dach, manchen fehlten ein paar Wände. Es kann viele Gründe für leere und halb verfallene Häuser geben. Aber mit dem historischen Hintergrund, den man im Kopf hat, versucht man sich eben vorzustellen, was passiert ist. Viele Menschen sind während des Krieges geflüchtet oder getötet worden und dann verfallen Häuser. Manchen Leuten wird, genauso wie bei uns, vielleicht während des Bauens das Geld ausgegangen sein. Mit dem Krieg im Hinterkopf nimmt man immer das Schlimmste an, obwohl man keine Beweise hat. Doch überall in Sarajevo wird gebaut. Hochhäuser werden neu gebaut, Straßen geflickt. Der Krieg ist gerade mal zwanzig Jahre vorbei. Wir reisen durch die Länder und bemerken die Ruinen, anstatt zu erkennen, dass trotz der schlechten wirtschaftlichen Lage schon Vieles wieder aufgebaut wurde.

In einem Vortrag, den wir hörten, wurde gesagt, dass Sarajevo von Hügeln umgeben sei, weshalb die Scharfschützen auch so ein leichtes Spiel gehabt hätten. Es war deshalb der erste Gedanke, der mir kam, als ich aus dem Bus stieg und mich umsah. Natürlich hatten die bosnischen Serben ihre Zentren oben auf dem jüdischen Friedhof und oben auf der Burg. Man sieht einfach alles, und was man sieht, kann man töten.

Foto © Patricia Radda

Ich war noch klein und mein Cousin erfand eine Geschichte, über etwas, was er gesehen hatte, als er aus dem Fenster sah. Ich widerlegte die Geschichte mit einem Blick aus dem Fenster, da man von dort das Wichtigste in seiner Geschichte gar nicht hätte sehen können. Von der Ermordung des Thronfolgers Franz Ferdinand erfährt in Österreich jedes Kind in der Schule. Als ich noch in Wien studierte, hat uns ein Professor die Geschichte genau erzählt, mitsamt den Wagen, die falsch abbogen, keinen Rückwärtsgang hatten, Gavrilo Princip, der im Kaffeehaus saß und so weiter.  Aber erst als ich tatsächlich dort an der Stelle stand, habe ich es begriffen. Und im weiteren Verlauf meines Besuches sollte ich noch mehr fühlen und verstehen; Dinge, die ich vorher nur gelesen und erst jetzt – zumindest ansatzweise – verstanden habe. 

Meine Vorstellung von Scharfschützen war von Hollywood geprägt. Ein Auftragskiller sitzt irgendwo in einem Hochhaus und wartet stundenlang auf das eine Opfer, das es entweder verdient zu sterben oder vollkommen zufrieden damit ist, für die gute Sache zu sterben oder später bitterböse gerächt wird. Nur selten wird in Filmen oder Serien von einem Menschen auf mehrere Menschen geschossen, und wenn dann leidet der Täter an einer psychischen Krankheit. Seltsamerweise sind das immer nur Männer, nie Frauen.

Die Anfänge eines Krieges sind ja nie so genau auf den Punkt zu bringen, aber am 5. April 1992 nahmen in Sarajevo bis zu 100.000 Leute an einer Friedensdemonstration teil.  Und dort wurde dann in die Menge geschossen. Es gibt Videoaufnahmen von einer Menschenmenge, die auf ein Gebäude – das Holiday Inn – zuströmt, und dann von Schüssen auseinandergetrieben wird. Zwei Frauen starben. Ich las die Geschichte, ich hörte die Geschichte nochmal vom Tourguide. Ich stand auf der Brücke, die nach den beiden Frauen benannt wurde – Most Suade i Olge. Und ich spürte es noch nicht. Erst im Zusammenhang mit den tatsächlichen Orten, den Einschusslöchern an den Hauswänden und den Dokumentationen, begann ich zu verstehen. Ich musste es sehen, dann begann ich es zu spüren. 

Foto© Patricia Radda. Brunnen vor der Gazi-Husrev-Beg-Moschee

Zum Beispiel, wie vorhin erwähnt, die Hügel, die die Stadt umgeben wie eine Stadtmauer. Aber anstatt die Stadt zu schützen, vereinfachte die Mauer den Krieg für die Belagerer. Sarajevo hat nichts im Überfluss, außer Wasser, meint der Tourguide. Wasser sei immer genug da. Auch im Krieg gab es bei der Brauerei eine eigene Wasserquelle. Aber dazu musste man über die Sniper Alley.  Wir fuhren mit dem Bus die Sniper Alley entlang. Es ist eine breite Straße, gesäumt von hohen Häusern, die Straße geht den Fluss entlang, man kann sich nirgendwo verstecken. Erst im Tunnelmuseum sahen wir die erste Dokumentation. Sie zeigte, wie genau die Häuser, an denen wir eben vorbeigefahren waren, zerschossen wurden, wie einzelne Menschen über die Straße rannten und ihnen nachgeschossen wurde. Im Durchschnitt schlugen täglich über 300 Granaten in der Stadt ein, am schlimmsten Tag sogar fast 4.000.  Das sind wieder Zahlen und Theorie, die unvorstellbar sind. Doch wenn man Einschusslöcher sieht und dann im Film wie sie entstanden, wird plötzlich alles sehr real. 

Foto © Patricia Radda. Im Tunnelmuseum ist der Eingang des Tunnels betretbar

Im Tunnelmuseum hängt eine Karte. Man kann genau sehen, wie lange der Weg vom Inneren der Stadt bis zum Tunnel ist. Der Flughafen war Sitz der UN-Truppen. Links und rechts davon war alles voller Scharfschützen, deshalb wurde mit einfachsten Mitteln ein 800 Meter langer Tunnel unter der Landebahn durchgegraben. Heute sind etwa 20 Meter davon für Touristen zugänglich. Ich bin recht klein und habe mir trotzdem mehrmals im Tunnel den Kopf angestoßen. Man muss in ständig gebückter Haltung gehen. Im Museum sieht man Fotos von Leuten, die schwerbeladene Rucksäcke und Scheibtruhen haben. So kamen Waffen, Medikamente und Essen in die Stadt. Der jetzige Tunnel – dunkel, eng, feucht – ist nur einen Bruchteil so lang wie der eigentliche Tunnel war und trotzdem war ich froh, als ich auf der anderen Seite wieder ins Freie kam. Die UN-Truppen haben nichts gemacht. Wenn Leute ins freie Territorium wollten, haben die UN-Soldaten gesagt, sie sollen wieder zurückgehen, erklärt der Tourguide. Natürlich ist das eine sehr einseitige Erzählung. Und die UN-Truppen haben im Bosnienkrieg sehr Vieles falsch gemacht. In einem Artikel aus dem Spiegel vom 5.12.1994 heißt es, um 2000 Dollar sei eine Sondergenehmigung der UNO zu bekommen, mit der man das Gelände in einem gepanzerten Auto überqueren hätte dürfen. Das sei lebensgefährlich gewesen und nur Verrückte würden sich dafür entscheiden, hieß es in dem Artikel. Neben der Verpflegung mit Waffen und Nahrung wurde der Tunnel auch benutzt, um bosnische Soldaten an andere Fronten zu stationieren. Und auch wenn man es durch den Tunnel schaffte, musste man noch den Berg hinaufgehen, bis man zu muslimisch kontrollierten Straßen kam, die nicht Sicherheit, aber Hoffnung darauf bedeuteten.  

Foto© Patricia Radda. Der Eingang des Tunnelmuseums. Einschusslöcher an der Hausfassade.

Vor dem Tunnelmuseum gibt es Einschusslöcher, wie überall in der Stadt. Die Einschusslöcher an den Hauswänden werden gelassen wie sie sind. Die Granateneinschläge am Boden nicht. Sie wurden mit rotem Harz gefüllt. Genannt werden diese Stellen die Rosen von Sarajevo, es gibt sie überall. Und so wird die Stadt zum Denkmal. Diese Art von Tourismus, Kriegsschauplätze anschauen, diese besondere Art von Historysmus gibt es schon lange. Und sobald die Länder als einigermaßen sicher gelten, fliegen die Menschen sehr bald wieder dorthin. Weil Krieg neugierig macht und man ihn gut vermarkten kann.

Bereits am ersten Tag fällt auf: Wir sind direkt in der Altstadt und alles ist auf Touristen ausgerichtet. Die Altstadt besteht aus vielen kleinen Gassen, ein Geschäft nach dem anderen, die immer dieselben Souvenirs anbieten. Und zwischen den Tassen, Postkarten, T-Shirts und Kaffee- und Gewürzmühlen stehen Dinge, die aus Patronenhülsen angefertigt wurden. Panzer, Flugzeuge, Schlüsselanhänger, Stifte. Natürlich kann die Wiederverwendung der alten Dinge bei der Vergangenheitsbewältigung helfen. Man setzt sich künstlerisch mit den Schrecken der Kriegszeit auseinander. Und offenbar gibt es einen Markt dafür, sonst würden es nicht so viele verschiedene Läden anbieten. Ein wenig schnürt es einem die Kehle zu, und dann denke ich mir: „Wenn es für die Leute hier okay ist, muss das auch für mich okay sein.“

Foto© Patricia Radda, Patronenhülsenwiederverwertung.

Das ist nicht das einzige Mal auf der Reise, dass mir beinahe die Luft wegbleibt. Im Gedenkmuseum für Srebrenica kommen mir mehrmals die Tränen. Ich schrieb vor Jahren eine Arbeit darüber, ich kannte Details. Mit meinen Kolleginnen besprach ich später den Aufbau des Museums. Man betritt die Ausstellung und steht in einem Raum mit schwarzbemalten Wänden. Und auf diesen Wänden sind Porträtfotos. Hunderte Menschen bekommen einen Namen und ein Aussehen. Als Beispiel wird über den Audioguide die Geschichte von einer Familie erzählt, mit dem Hinweis, dass es hunderte solcher Geschichten gibt. Und dass viele dieser Geschichten noch nicht erzählt werden können, weil die Leichen noch nicht zugeordnet werden konnten. Neben den Porträtfotos der Opfer gibt es auch Momentaufnahmen aus den Flüchtlingslagern und den Leichenhallen.

I Want You To Save Sarajevo. Die Plakate von Trios hängen in der Galerija 11/07/95

Die Ausstellung und besonders der Audioguide drücken sehr auf die Tränendrüse. Sie machen auf das allergrößte Problem aufmerksam, dass die moderne Menschheit kennt. Anonymität. Überschriften in allen Medien überschütten uns tagtäglich mit Meldungen: „59 Tote bei Luftangriff“, „200 Tote bei Erdbeben“, „Mehr als 350.000 Tote im Syrienkrieg“. Wir lesen die Überschriften und verstehen sie, begreifen aber nicht, was das für das Umfeld, die Familien bedeutet. Wir denken keine Sekunde darüber nach, was alles zerstört wurde. Wir nehmen die Meldungen nicht ernst und es kommt uns überhaupt nicht mehr tragisch vor. Das ist Selbstschutz. Kein Mensch könnte alle diese Meldungen ernst nehmen und nicht daran verzweifeln. Und wenn wir wissen im Juli 1995 – schon länger her – sind über 8000 Menschen in Srebrenica ermordet worden, dann tut uns das leid. Aber es ist eine unvorstellbare Zahl. Wir können nicht um alle trauern und schon gar nicht mit denen, die überlebt haben. Wir wissen, wer welche Stadt eingenommen hat und auf wessen Befehl hin Verbrechen begangen wurden. Wir können die Täter hassen, aber das macht die Opfer nicht greifbar. Und deshalb ist es so wichtig, dass versucht wird, den Opfern Namen zu geben, dass die Bilder gut sichtbar aufgehängt werden. Die Geschichten müssen erzählt werden, damit die Unbetroffenen begreifen, was passiert ist.

In der Galerija 11/07/95 gab es auch Dokumentationen und Spielfilme zu sehen. Neben den vielen Bomben, dem Tod und der Zerstörung wird aber auch daran erinnert, dass die Kunst vielen Leuten dabei geholfen hat, nicht den Verstand und die Hoffnung zu verlieren. Es gab Musik- und Theaterveranstaltungen und die Misswahl. Ein Aushängeschild sind Die Postkarten – alte Logos und Werbeplakate, die leicht verändert, die Welt auf Sarajevos Lage aufmerksam machen sollten -, die unter großen Schwierigkeiten hergestellt wurden und schließlich in den großen Magazinen rund um die Welt landeten. Die Ausstellung spricht viel von Hoffnung. Sie lässt die Frage aufkommen: Was hast du gemacht, als bei uns Krieg war? und gleichzeitig macht sie darauf aufmerksam: Jetzt ist in Syrien Krieg! Was macht die Welt dagegen? Die Ausstellung ergreift Partei und verlangt es von den Besucher*innen ebenfalls.

All that is necessary for the triumph of evil is that good men do nothing. Mit diesem Zitat und einer Übersicht, was gerade in Syrien passiert, endet die Ausstellung.

Lücken

Ich habe einige wenige Dinge gefühlt und meiner Meinung nach begriffen. Weite Teile der Stadt habe ich nicht einmal flüchtig kennengelernt. Ich habe ein paar farbige Punkte auf meiner Landkarte, aber die meisten Stellen sind riesige, weiße Lücken. Mit einem einzigen Besuch in einer Stadt kann man diese Lücken nicht füllen, das ist mir bewusst.

Man geht tagelang durch die Stadt, aber (vor allem wegen der Sprachbarriere) redet sehr wenig. Einige Menschen hören unser Deutsch und sprechen mit uns Deutsch: Sie erzählen, wo sie mal gewohnt haben. Wir trauen uns nicht nach dem Krieg zu fragen, es ist noch nicht so lange her. Ich habe meine Großeltern und meine Urgroßmutter zum Zweiten Weltkrieg befragt. Sie sind in einem Alter, wo das meiste schon halb vergessen sein müsste. Die Worte meiner Urgroßmutter (sie wurde dieses Jahr 98 Jahre alt) waren tatsächlich: „Ach, nach mir die Sintflut!“ Ihre Auffassung ist, dass die meisten Leute schon tot sind und ihre Meinungen und Erzählungen heute keine Konsequenzen mehr haben. Weder für sie noch für andere.

Aber dieser Krieg ist zwanzig Jahre her. Die Leute, die ihn erlebt haben, sind so alt wie ich selbst. Es sollte mir leichter fallen mit ihnen zu reden, aber dann: Ich habe nichts erlebt und sie alles.

Ich gehe durch die Stadt und schaue. Überall sind Hinweise auf den Krieg. Ich bin betroffen, mir kommen öfters die Tränen, wenn ich mir vorstelle, was die Menschen für eine Kindheit hatten. Wie viele Eltern und Geschwister und Freund*innen sie verloren haben. Ich versuche, meinen Besuch zu genießen und mir meine Betroffenheit nicht anmerken zu lassen.

In dem Vortrag von Dr. Karl Kaser und im Sarajevo-Text von Sundhaussen erfuhren wir, dass man die Geschichte der Stadt in den verschiedenen Stadtteilen erkennen könne. Sundhaussen fasst es schön zusammen: Die Altstadt hat alles, was man für einen Erinnerungsort braucht, niemand fährt wegen dem modernen Stadtteil nach Sarajevo.  Der alte schöne Basar mit den verwinkelten Gassen mündet in eine breite Straße, eine große westliche Einkaufsstraße wie sie in Wien oder Graz auch zu finden sind. Getrennt ist Ost und West durch eine weiße Linie am Boden. Dort steht: Meeting of Cultures. Während die Stadt West und Ost vereinen will, ist es hier auf der Straße klar getrennt: Der Strich ist die Grenze. Die Gebäude werden Richtung Westen immer größer und neuer.

In meinem Kopf arbeitete es heftig. Dinge, die ich früher gelesen oder erzählt bekommen habe, machten plötzlich mehr Sinn. Dinge, die ich früher gelernt hatte, wurden hinterfragt. Der Tourguide des ersten Tages erzählt von der Zeit, als er ein kleines Kind war, als Tito noch lebte, und er ist nicht der Einzige. Auch meine Bekannten sind bekennende Jugoslawienfans. Sie sind überzeugt davon, dass alles Übel nur durch die lächerliche Idee des Nationalismus passierte. Überall findet man Hinweise auf die Olympischen Winterspiele 1984, als noch alles gut war. Dorthin wollen sie zurück, so soll die Welt Bosnien sehen, glücklich und stark. Die Leute, die über den Sozialismus reden, ihn teilweise miteinander leben (sogar in einer Gesellschaft wie Österreich), kennen die Titozeit nur als Geschichte. Ihre Eltern haben ihnen erzählt, wie gut alles damals war. Und wie immer entsteht aus dem „Früher war alles besser“-Kontext eine Utopie. Ein Wunsch, den man erreichen möchte, obgleich er so wohl nie existiert hat. Natürlich war früher alles besser: Zuerst der Krieg, dann die wirtschaftliche Lage, die jetzige politische Situation. Alle Jungen wollen aus Bosnien weg. Meine Freunde haben es alle mit Studentenvisa geschafft, so geht es am leichtesten. Mit Bildung kann man alles und ich wünsche mir, dass sie Recht haben. Nach meiner Rückkehr aus Bosnien redete ich mit einer Arbeitskollegin, die gerade maturierte. Sie fragte mich über meine Reise aus, dann meinte sie: „Alles, was wir in der Schule über Kommunismus und Sozialismus lernen ist negativ besetzt. Wegen Russland wird einfach alles in die Richtung gleichschlimm eingestuft wie Faschismus.“ Ich musste lange über dieses Gespräch nachdenken. Viele meiner Bekannten halten Tito für ein Wunder, durchgehend positiv besetzt. Bei mir ist das nicht so, aber ich musste darüber nachdenken, ob mir das nicht einfach in der Schule eingetrichtert wurde. Vielleicht habe ich Tito in die falsche Schublade gesteckt und bin bis jetzt einfach damit durchgekommen, weil es in Österreich so üblich und gerne gesehen ist? Weil es tatsächlich in politischer Bildung so gelernt wird?

Überall wird Sarajevo als Zusammenleben der verschiedenen Religionen gehandelt. Dieses Trugbild sei während des Krieges kurz zerfallen und wird jetzt wieder von der Bevölkerung (nicht von den Politikern!) erschaffen. Die Frau, die uns eine „jüdische Tour“ durch Sarajevo gab, meinte, etwa 90% der Stadt seien Muslime. Die Stadt sieht aus und fühlt sich an wie jede andere Stadt in Europa auch. Wo ist der Unterschied? Wo ist dieses „Muslimisch sein“? Wie wird es ausgedrückt? Denn durch die Kleidung, die ja in Österreich so ein großes Thema ist, offensichtlich nicht. Ist die Stadt einfach nur so touristisch ausgerichtet, dass alles erlaubt ist? Sind alle muslimischen Städte so offen und werden von österreichischen Medien absolut verunstaltet, damit sich Österreicher*innen besser und überlegen fühlen? Ja, natürlich, gebe ich mir selbst zu Antwort. So wie die österreichische Politik und das von Medien hochgepeitschte Bild gerade inszeniert werden, ja. Aber ich gehe ein paar Tage durch die Stadt. Ich sehe nur, was ich im Moment sehen kann. Und im Moment sehe ich fröhliche Gesichter, gehetzte Businessleute, Familien. Es ist Ramadan. Abends trifft man sich zum Essen, umarmt sich, wartet auf den Kanonenschuss und feiert. Ich sehe: Sarajevo ist einfach eine europäische Stadt. Was ich nicht sehe, sind die Hintergründe, die Untergründe, die Abgründe, die das schöne Bild verunstalten würden. Ich sehe wenige Außenseiter. Keine Menschen, die zum Beispiel ihre Kleidung dazu verwenden, nicht ins Bild zu passen. Ich sehe in all den Tagen: drei junge Burschen, die auf der Straße Breakdance machen, zwei Punks, drei Metalheads und einen Mann im Minikleid mit hochhackigen Schuhen. Dem Mann schauen alle hinterher, genau wie sie es auch in Österreich gemacht hätten. Als ich in einem Drogeriemarkt einkaufe, fällt mir auf, dass es nur klassische Haarfarbe zu kaufen gibt: blonde, braune, schwarze. Kein Rot, kein Lila, Blau oder Grün. Vielleicht ist es in Sarajevo einfach schwerer, sich exzentrisch zurechtzumachen. Die Frauen auf der Straße sind auffallend schön. Sie sind gepflegt und immer perfekt geschminkt. Die Feministin in mir denkt, dass Frauen sich für Männer herrichten müssen, das ist im Konzept verankert. Aber vielleicht wollen sich die Frauen auch einfach nur schminken? Es muss ja nicht immer gezwungen sein, ganz im Gegenteil: Ich habe eine Freundin mit streng katholischen Eltern, die ihr nie erlaubt haben, sich zu schminken. Das Schminken ist für sie eine Freiheit, ein Luxus, den sie sich hart erkämpfen musste, vielleicht ist es bei diesen Frauen auch so? Es gibt immer verschiedene Perspektiven. Niemand kann sie alle bedenken.

Literatur

Flottau, Renate : Tödlicher Irrtum, Spiegel Online vom 05.12.1994, URL: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13686421.html[09.08.2018].

Müller-Güldemeister, Katharina: Eine ganz normale Stadt, Die Zeit Online, veröff. 29.11.2016, URL: https://www.zeit.de/entdecken/reisen/2016-11/sarajevo-reise-bosnien-tourismus-stadtfuehrung[09.08.2018].

Przybilla, Steve : Der Tunnel, die Sniper und eine Kuh. Spiegel-Online vom 24.09.2015. URL: http://www.spiegel.de/reise/staedte/buergerkriegstour-durch-sarajevo-tunnel-sniper-und-eine-kuh-a-1054214.html[09.08.2018].

Schmid, Hansjörg: Bosnischer Islam für Europa? Geschichte, Organisation, Sozialethik. In: Benjamin Idriz, Stephan Leimgruber u. Stefan Jakob Wimmer (Hrsg.): Islam mit europäischem Gesicht. Impulse und Perspektiven, Kevelaer 2010.

Sundhaussen, Holm: Sarajevo – Die Geschichte einer Stadt, Wien 2014.

Abbildungen

Alle Fotos: Patricia Radda, 2018.

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Das war mein 2016

Tatsächlich. Der 784.334. Jahresrückblick. Völlig unoriginell, versprochen. WordPress hat mir gerade geschrieben, dass ich mich vor acht (8!) Jahren hier registriert habe. Meine Güte! Es kam mir ehrlich gesagt nicht so lange vor.

Es gibt eine Seite, die heißt schreibwahnsinn.de, da gibt es jetzt 31 Tage #autorenwahnsinn. Jeden Tag muss man irgendetwas posten aus dem Autorenalltag. Ich möchte nicht jeden Tag etwas posten, werde aber einige Vorschläge einfach mal übernehmen. Tag 01 dieser Challenge ist ein Rückblick über mein Schreibjahr 2016.

Ich muss euch gestehen, dass ich 70% für die Uni schreibe, 20% für Poetry Slams und nur ganz wenig Zeit für eigene, größere Projekte eingeplant hatte. Das war mein Schreibjahr 2016. Viele (Pro-)Seminararbeiten und Referate, die recherchiert und geschrieben werden wollten und kaum Zeit, etwas Gscheites zu machen.

Ein Teil von mir bedauert das. Der andere Teil liebt es, sich in Bibliotheken zu vergraben und schwachsinnige Artikel aus Zeitungen von 1907 durchzuackern, nach Informationen, die man ganz bestimmt nur einmal – nämlich in dieser einen Arbeit- braucht.

Schreibtechnisch war mein Jahr für mich also nicht wirklich zufriedenstellend. Dann haben wir aber seit August die Grazer Jugendlesebühne in der CuntRa. Dort vermischen wir ein Mal im Monat Slam mit Theater. Wir schreiben jedes Mal ein neues Skript mit meist neuen Texten und das ist schon viel Arbeit, aber hauptsächlich macht es viel Spaß.

Wirklich gut für mich und schlecht für die Uni ist es dann im Dezember gelaufen. Jedes Mal, wenn ich mich auf meine Referate konzentrieren wollte, ist mir etwas Besseres eingefallen und so habe ich sehr viel an anderen Projekten gearbeitet. Also ist dann doch noch einmal was weitergegangen. Yeah.

Wie immer im Winter – also genau vor der Prüfungszeit – nehme ich mir vor, weniger für die Uni und mehr echtes Zeug zu machen. Funktioniert meistens nicht. Wahrscheinlich wird es dieses Jahr ähnlich sein. Und trotzdem hoffe ich, dass mein Schreibleben ab Februar besser wird. Diesmal echt.

Helene Kottannerin

Schon mal was von Helene Kottannerin gehört? Ich auch nicht. Jetzt studiere ich schon so lange Geschichte, beschäftige mich über zehn Jahre mit den Habsburgern und trotzdem tauchen immer wieder Geschichten auf, von denen ich noch nie etwas gehört habe. So auch der Raub der Stephanskrone durch Helene Kottanner.

„Die Denkwürdigkeiten der Helene Kottannerin (1439-1440)“

Die Handschrift „Die Denkwürdigkeiten der Helene Kottannerin“ sind die ältesten deutsch-sprachigen Frauenmemoiren. Der Inhalt beschäftigt sich mit Geschehnissen aus dem Jahr 1439/40, man nimmt an, dass die Handschrift etwa 1450 entstand. Mit der Geschichte des Diebstahls der Stephanskrone beschäftigten sich die unmittelbaren Zeitgenossen (die Humanisten Aeneas Sylvius Piccolomini (1405 – 1464), Johann Dlugosz (1415 – 1480) und der Kaufmann Eberhard Windecke), sowie die Nachwelt. Die „Denkwürdigkeiten“ sind jedoch der einzige Augenzeugenbericht. Wie bei allen Quellen muss man vorsichtig sein, denn die Handschrift gibt die Perspektive der Helene Kottannerin in Ich-Form wieder.

Die Handschrift und die Überlieferung

Die Handschrift ist in der Nationalbibliothek in Wien. Sie besteht aus 16 auf beiden Seiten beschriebenen Blättern. Blatt 1 ist stark beschädigt. Der Bericht bricht mitten im Satz ab, das heißt, die Handschrift ist ein Fragment. 1834 wurde die Handschrift kopiert und so wieder in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Erst 1846 wurde von einem unbekannten Herausgeber (vielleicht der Wiener Universitätsprofessor Stefan L. Endlicher) der Text der Handschrift publiziert. Dazu gab es Anmerkungen, andere Quellen, eine chronologische Übersicht der Geschehnisse, ein Namensregister und ein Glossar, aber keine textkritischen Bemerkungen.

Der Text wurde nicht buchstabengetreu, sondern modernisiert herausgegeben. Die ersten beiden schadhaften Seiten wurden nicht ergänzt. Im allgemeinen Interesse stand der Kronenraub und die Auswirkungen. Die historischen, volkskundlichen und sprachgeschichtlichen Angaben, die heute als so wertvoll angesehen werden, wurden vernachlässigt. Der Quellenwert der „Denkwürdigkeiten“ wurde von mehreren Historikern bestätigt. Es gibt eine Urkunde vom 17. März 1452, in der Johann Kottanner und seiner Frau Helene für ihre Dienste für König Ladislaus V. ein zur Pressburger Burg gehörender Besitz (Kisfalud) geschenkt wird. Diese Schenkung wurde erst 1470 von König Matthias von Ungarn bestätigt. Als Gustav Freytag die „Denkwürdigkeiten“ in seiner „Frau am Fürstenhofe“ 1866 verarbeitete, wurde das Werk weiteren Kreisen bekannt. Emmerich Henszelmann versuchte anhand der „Denkwürdigkeiten“ eine Identifizierung der einzelnen Räume der Plintenburger Ruinen.
Der Archivar und Historiker Karl Uhlirz stellte fest, dass die „Denkwürdigkeiten“ zwischen dem Tod der Königin Elisabeth (also nach dem 19. Dezember 1442) und vor dem Tod von König Ladislaus V. (also vor dem 23. November 1457) verfasst wurden. Uhlirz machte die ersten textkritischen Bemerkungen. Zum Beispiel stellte er fest, dass die erste Hand die Namen Helenes und ihrer Mithelfer leer ließ – aber dass der Name ihres Mannes schon hingeschrieben wurde, übersah er.
Karl Mollay weist immer wieder daraufhin, dass Helene Kottannerin ihre Rolle betont, etwas, das im Mittelalter ganz unüblich war. Deshalb geht er davon aus, dass die ganze Geschichte nur erzählt wurde, um Ladislaus zu zeigen, wie wichtig Helene selbst für die Aktion war. Die Belohnung erfolgte 1452, also nimmt man die Zeit um 1450 als Entstehungszeit der Handschrift an.
Außerdem bezweifelt Karl Mollay, dass die erhaltene Handschrift das Original ist. Er weist auf die vielen Fehler hin, besonders auf die ausgelassenen Wörter und die Fälle, „wo die erste Hand ein Wort beginnt, dann jedoch bemerkt, daß vorher ein Wort, zwei Wörter oder gar ein ganzer Satz ausgeblieben sind, und diesen Fehler verbessert.“ Er meint, dass solche Fehler nicht entstehen, wenn jemandem diktiert wird, sondern wenn ein Schreiber eine Abschrift anfertigt. Natürlich kann man nicht wissen, ob die Originalhandschrift oder auch diese Abschrift von Helene Kottannerin selbst geschrieben wurde; Mollay geht davon aus, dass eine Frau im 15. Jahrhundert einfach nicht dazu in der Lage war.

Inhalt der Handschrift

Da der Inhalt der Handschrift zu umfangreich für diese Arbeit ist, beschränke ich mich auf den Kronraub und die Rolle, die sich Helene Kottannerin darin zuschreibt.

Helene Kottannerin trifft mit der Königstochter Elisabeth zwischen Ostern und Pfingsten 1439 von Wien kommend in Pressburg ein.
Albrecht lässt wegen des Aufstandes der Ofner Ungarn die Krone und die Krönungsinsignien in Sicherheit bringen. Wegen der drohenden Kriegsgefahr reist er zwischen verschiedenen Lagern Südungarns herum. Er ließ die zwei Kronen und die Krönungsinsignien auf die Plin-tenburg, den traditionellen Aufbewahrungsort, überführen. Die Plintenburg gehört der Köni-gin. Helene Kottannerin ist dabei, als die Krone im zweiten gewölbten Raum (Schatzkammer) im Erdgeschoß des sogenannten fünfeckigen Turmes der Plintenbrug, im Beisein der Landes-herren dem neuen Kronhüter, Graf Georg (III.) von St. Georgen und Bösing, zur Aufbewahrung übergeben wird.
Der König erkrankt an der Ruhr, wird nach Plintenburg gebracht, dann weiter nach Wien, wobei er bereits in Langendorf stirbt. Mit Albrechts Tod rückt die Königskrone in den Brennpunkt der Ereignisse und damit in den Mittelpunkt der Erzählung, sodass wir nichts über die Bestattung des Königs hören.

Die Krone gilt bis heute als die wichtigste Reliquie Ungarns.
Das Volk glaubte daran, dass diese Krone nur dem rechtmäßigen Herrscher zustand, denn sie symbolisiert Kontinuität. Die Herrschaft des Königs musste immer neu realisiert werden, da die Krone für den bodypolitic steht, also als Zweitkörper des derzeitigen Königs (body natural) dient. Body politic und body natural müssen bei jeder Krönung, bei jedem neuen König neu zusammengefügt werden.
Elisabeth will die Krone als Versicherung. Wenn ihr Sohn der neue König ist, muss sie nicht den jungen polnischen Herrscher heiraten, sie kann ihre Herrschaft fortsetzen.

Die Königin bestellte die Grafen Nikolaus (II.) und Georg (II.) von St. Georgen und Bösing zu sich und überzeugte sich persönlich, ob die zwei Kronen auf der Plintenburg geblieben waren. Die Kottannerin war Augenzeugin, als die zwei Kronen aus der Schatzkammer in das Gemach der Königin getragen wurden, als nachts in diesem Gemach ein Feuer entstand, als am nächsten Tag die Kronen wieder in die Schatzkammer getragen, der Kronhüter Graf Georg seines Amtes enthoben und der Vetter der Königin, Ladislaus von Gara, zum neuen Kronhüter eingesetzt wurden.

Die wichtige Rolle der Helene Kottannerin

Auffallend ist, wie die Kottannerin ihre eigene Rolle hervorhebt, was sonst in dieser Zeit unüblich ist. Königin Elisabeth bespricht sich mit ihrem engsten Berater, Grafen Ulrich von Cilli. Dann bittet sie Helene Kottannerin die Krone aus der Plintenburg zu ihr zu schaffen. Helene Kottannerin fühlt sich mit dieser Bitte überfordert. Sie kann sich niemandem anvert-rauen, fragt Gott um Rat. Und schließlich meint sie, dass sie die größere „Schuld vor Gott und der Welt“ hat und diese Aufgabe unbedingt übernehmen muss. Dieser Diebstahl ist für sie ein Kampf für die gerechte Sache, eine Auseinandersetzung zwischen dem Guten und dem Bösen. Gott wird nicht um Hilfe angerufen, er wird zum Hauptakteur gemacht – also er macht sein wunderwerch und es ist sein Wille.
Tatsächlich ist es ein gut vorbereiteter Einbruch. Der ungarische Adelige, der bereit ist zu helfen, hat zwei Feilen und neue Schlösser in seinen Stiefeln versteckt. Helene trägt das Siegel der Königin bei sich, damit der aufgebrochene Raum wieder verschlossen werden kann. In der Nacht des 20. Februar 1440 geht dieser Einbruch über die Bühne.
Während die Männer feilen, liegt die Kottannerin auf den Knien und betet – sie sorgt so dafür, dass alles gut geht. Als sie Geräusche hört, ist sie überzeugt davon, dass der Teufel kommt und reagiert mit mehr Beten und mit dem Gelübde, barfuss eine Wallfahrt zu machen. In der eigenen Darstellung ist sie daher genauso wichtig, wie die Leute, die die Tür aufbrachen.
Die Krone wird von der Plintenburg nach Kormon überführt. Knapp eine Stunde später wird dort dann der Thronfolger geboren.
Nach der Geburt von Ladislaus dreht sich alles um den Kleinen. Freudenfest, Taufe. Die Kot-tannerin näht in der Kormoner Burgkapelle die Krönungsgewänder für den kleinen Königs-sohn. Auf der Reise von Kormon in die Krönungsstadt Stuhlweißenburg spielen die zwei Frauen die wichtigste Rolle: die Königin verhandelt mit den mitziehenden Adelsherren, die Kottannerin reitet neben dem kleinen Thronerben oder trägt ihn zu Fuß. Am Krönungstag kleidet sie ihn zur Krönung an, sie trägt ihn in die Kirche, sie hält ihn während der Schwert-leite, der Salbung und der Krönung am Arm.
Dann folgt der Versuch, die Rechtmäßigkeit der Krönung des Ladislaus Postumus zu beweisen. Bei der Beschreibung des Krönungszuges behauptet sie, dass neben der Stephanskrone auch der Reichsapfel, Zepter und Legatsstab verwendet wurden, obwohl diese Krönungsinsignien auf der Plintenburg geblieben waren.
Das ist die einzige Stelle in den Denkwürdigkeiten, die sich als (nachweisbar) unwahr erwies.
Durch dieses Herausheben, dass Helene Kottannerin selbst so wichtig für das ganze Unter-nehmen war, geht man eben davon aus, dass alles zu dem Zweck niedergeschrieben wurde, dass die Kottannerin Ladislaus klar machen wollte, wie wichtig sie war und das sie eine Belohnung verdiente, die sie dann ja auch bekam.

Wichtige Anhaltspunkte für die Forschung

Man kann herauslesen, dass Helene Kottannerin eine tatkräftige, schlagfertige, praktische Frau ist, mit einer feinen Beobachtungsgabe und gute Menschenkenntnis. Sie sprach kein Ungarisch, verstand es aber, und konnte sich in den ungarischen Hofintrigen zurechtfinden. Der literarische Wert der „Denkwürdigkeiten“ wird stets betont, auch über Volksglauben und Volksmedizin und natürlich die Sprache kann man viel erfahren. Außerdem werden dank Helene die agierenden Personen unter einem sehr seltenen Blickwinkel dargestellt. Zu dem öffentlichen und „privaten“ Auftreten der Adeligen und deren Beziehungen zu ihrem Umfeld wurden schon mehrere Aufsätze verfasst.

Literatur

Mollay, Karl (Hrsg.): Die Denkwürdigkeiten der Helene Kottannerin (1439 – 1440). Wien 1971.
Wenzel, Horst: Zwei Frauen rauben eine Krone. Die denkwürdigen Erfahrungen der Helene Kottannerin (1439-1440) am Hof der Königin Elisabeth von Ungarn (1409-1442). In: Schulte, Regina (Hrsg.): Der Körper der Königin. Geschlecht und Herrschaft in der höfischen Welt seit 1500. Frankfurt am Main 2002.

Dieser Aufsatz wurde von mir im Sommersemester 2015 für einen Kurs an der Universität Graz verfasst. Details, Recherche, Abbildungen und Vollversion können bei mir auf Anfrage eingesehen werden. Wie immer: Falls euch Fehler auffallen, bitte bei mir melden! – Patricia Radda

Wounded Knee, 1973

Eine winzigkleine Zusammenfassung, einfach weils mich mal interessiert hat…

In den siebziger Jahren wurde immer wieder auf die schlimme Lage der amerikanischen Ureinwohner aufmerksam gemacht. Keine andere Aktion fand so viel weltweites Echo wie die Be-setzung von Wounded Knee. Im November 1972 kamen, wenige Tage vor den Präsidentschaftswahlen, 1500 Abgeordnete der Reservationen und Ghettos nach Washington, um konkrete Vorschläge zur Verbesserung ihrer Lage vorzulegen. Ende Februar 1973 beschlossen die Bürgerrechtsorganisation der Oglala-Sioux und einige traditionelle Hauptlinge, die AIM (American Indian Movement) um Hilfe zu bitten. Unter der Führung von Pedro Bissionette wurde der Beschluss gefasst, Wounded Knee zu besetzen. Es sollte vor allem eine Untersuchung der 371 gebrochenen Verträge mit den Weißen erreicht werden. Vom 27. Februar 1973 an besetzten 300 bis 400 Oglala-Sioux die Ortschaft Wounded Knee. Sie kehrten damit an den Ort zurück, an dem ihre Vorfahren die tiefste Erniedrigung erlebten. Die elf Geiseln wurden nach zwei Tagen freigelassen. Am 17.April wurde das Feuer von US-Posten eröffnet. Der Apache Frank Clearwater wurde erschossen. Die Besetzung machte die Bewohner der USA überhaupt erst auf das Leid der Ureinwohner aufmerksam. Am 17. Oktober wurde Pedro Bissionette von der BIA -Polizei erschossen. Er sollte der Hauptzeuge in den Wounded-Knee-Prozessen sein. Während die Indianer sich mit Jagdgewehren verteidigten, kreisten am Himmel die Flugzeuge der amerikanischen Luftwaffe. Zuerst hieß der Befehl „Aushungern!“ und dann wurde geschossen. Es gab mehrere Verletzte.